Das Klangprojekt CORONA CONCRÈTE basiert auf den Erfahrungen des Klangkünstlers Lasse-Marc Riek und einigen seiner akustischen Erlebnisse aus dem ersten Jahr der COVID-19-Pandemie. In dieser Zeit entstand ein umfangreiches Tonarchiv, das die Grundlage und Quelle für die Ausarbeitung des Materials in diverse künstlerische Formate bildet.
Riek zeichnete seine unmittelbare Umgebung mit Hilfe verschiedener Mikrofone und Sensoren in der Zeit zwischen dem 28. März 2020 und dem 28. März 2021 auf. Einzelne Situationen wurden dabei oft aus verschiedenen Perspektiven und zu verschiedenen Zeiten aufgenommen. Genutzt wurden Unterwasser-, Stereo-, Richt- und Kontaktmikrophone. Es entstanden 1100 Stunden (1 Monat, 15 Tage, 20 Stunden) ungeschnittenes Material an 13 Orten, die Riek zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder besuchte. Durch den Lockdown-bedingten Rückgang anthropogener Geräusche wurden Lautäußerungen verschiedener Vogel-, Insekten- und Säugetierarten deutlich hörbarer.
Seismische Untersuchungen verschiedener ForscherInnen ergaben, dass der menschengemachte Lärm in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgrund des starken Rückgangs menschlicher Aktivitäten etwa in Form von industrieller Produktion oder Personen- und Güterverkehr um bis zu 50 Prozent zurückgegangen ist. Global quieting of high-frequency seismic noise due to COVID-19 pandemic lockdown measures / ScienceMag.org
Die Erarbeitung des Projektes CORONA CONCRÈTE wurden von zwei Leitfragen begleitet:
- Wie verändert sich die Lautsphäre, wenn eine gesamte Gesellschaft zuhause bleibt und Hinterhöfe, Gärten und stadtnahe Naturräume zum Lebensmittelpunkt werden?
- Wie verändern sich die Klanglandschaften in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens, wenn 95 Prozent des Flugverkehrs verschwinden?
In Phase 1 des Projektes, während des ersten Lockdowns in Deutschland vom 28. März bis zum 15. April 2020, standen für Riek die Klangveränderungen im eigenen Hinterhof im Mittelpunkt. Während der ersten Lockerungen zwischen dem 15. April und dem 5. Juni 2020, der Phase 2, beschäftigte er sich mit den Aufzeichnungen der Veränderungen der ihn umgebenden Klanglandschaften. In Phase 3, vom 5. Juni bis zum 30. Juli 2020, in der weitere Lockerungen stattfanden, dokumentierte Riek zusätzliche Situationen und Orte in verschiedenen Zeiträumen.
Der größte Teil der Aufnahmen wurde in Phase 4, zwischen 1. August und 31. Oktober 2020, editiert und um Informationen wie Ort, Lage, Uhrzeit und Datum der Aufnahmen sowie begleitende Fotos ergänzt. In den folgenden Monaten, der Phase 5 zwischen 1. November 2020 und 31. März 2021, entstand aus dem gesammelten Material eine Klangkarte, die eine Auswahl der gemachten Aufnahmen geographisch verortet und so zugänglich macht. Außerdem entwickelte Riek auf der Grundlage des Klangmaterials verschiedene Konzepte für Klanginstallationen und eine Reihe radiophoner Kompositionen. CORONA CONCRÈTE ist ein offenes Projekt und wird auch in Zukunft durch Ideen, Formate und Performances erweitert.
Vielen Dank an Tobias Schmitt, Verena Freyschmidt und Stefan Militzer.
Das Projekt wurde durch die Hessische Kulturstiftung und den Musikfonds e.V. unterstützt.
Durch den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im März 2010, kam der Flugverkehr in Europa für einige Tage vollständig zum Erliegen. Schon damals veränderte sich die Klangwelt in Europa während dieses Zeitraums erheblich.
Knapp zehn Jahre später beschlossen Bund und Länder in Deutschland am 22. März 2020 einen ersten Lockdown zur Eindämmung des neuartigen Coronavirus. Wieder wurde der Flugverkehr in Europa und dem Rest der Welt stark reduziert. Darüber hinaus kam es zu Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, die sich ebenfalls auf die unmittelbare Klangumgebung auswirkten.
Der Lebensmittelpunkt des Klangkünstlers Lasse-Marc Riek befindet sich Hanau-Steinheim und damit direkt in einer der Anflugzonen des größten deutschen Flughafens. Dieser Standort erwies sich als ein günstiges akustisches Forschungsumfeld, weil sich seine Geräusche durch den Pandemie-Lockdown stark veränderten. Ausgehend vom eigenen Wohnort konnte der Künstler so seinen Fokus auf akustische Ereignisse richten, die sonst im Alltagslärm untergehen: die Bewegungen kleinster Insekten unter Wasser, der Einzug von Waschbären in den heimischen Kamin, die Ankunft des Pirols aus seinen Überwinterungsgebieten und den Gesang eines zugefrorenen Sees.
Die Klangkarte zeigt eine Auswahl der Tonaufnahmen, die zwischen dem 28.März 2020 und dem 28. März 2021 entstanden. Der Hinterhof in Steinheim wurde zum akustischen Zentrum, eine Art Resonanzraum und Verstärker für die Veränderungen und Verschiebung der Pandemie-bedingten Klangsituationen. Von diesem Ort ausgehend werden Rieks akustische Reisen in die angrenzenden Wald- und Seengebiete zwischen Hanau und Mühlheim von der Soundmap geografisch und klanglich dokumentiert.
Das Klangmaterial für die Arbeit „Hinterhof“ besteht aus 60 Aufnahmen mit einer Länge von jeweils 60 Minuten. Es entstammt dem Konvolut an Tonmaterial, das in der Zeit zwischen 28. März 2020 und 28. März 2021 aufgenommen und editiert wurde.
Durch eine dynamische Programmierungs- und Zuweisungsstrategie werden in der Installation verschiedene Extrakte aus den Zeitlinien der jeweiligen Einzelaufnahmen herausgezogen und auf sechs Lautsprecher verteilt. Auf diese Weise macht Lasse-Marc Riek die akustische Verdichtung und Auflösung greifbar, die das erste Jahr seit dem Beginn der Corona-Pandemie an seinem Wohnort geprägt hat.
Ein Ausschnitt aus der Installation:
Programmierung und Unterstützung: Tobias Schmitt
Die Mehrkanal-Installation wird in der Zeit vom 01.08.2021-05.09.2021 in einer Ausstellung im Frankfurter Kunstraum ORBIT24 zu hören sein.
Soundscapes bilden ein weiteres Format, in das Riek das Tonmaterial seines Klangprojekts CORONA CONCRÈTE überführt hat. Jedes Soundscape erzählt eine eigene Geschichte über den Klangort, an dem sein Material aufgenommen wurde, und verschmelzt sie kompositorisch mit Rieks eigenen Erfahrungen an diesen Orten.
Die Dietesheimer Steinbrüche entstanden durch den umfangreichen Basaltabbau in einem parallel zum Main gelegenen Waldabschnitt zwischen Mühlheim und Hanau. Nachdem sie 1982 geflutet und an ihren Ufern umfangreich aufgeforstet wurden, stehen heute Teile unter Naturschutz. Obwohl das Schwimmen offiziell verboten ist, erfreuen sich die landschaftlich wunderschön gelegenen Seen nicht nur bei Jugendlichen großer Beliebtheit. Die Pandemie hat daran nichts verändert – im Gegenteil.
Die Aufnahmen, die Riek für seine Komposition von BEETLE UNDERWORLD genutzt hat, dokumentieren das Leben unter Wasser. Die Geräusche von Wasserkäfern und Wanzen werden von den Hydrophonen des Künstlers erfasst. Auch das Schwingen von Pflanzen unter dem Druck des strömenden Wassers ist zu hören. Unterbrochen wird das Sirren und Rascheln der Insekten von Wasservögeln, die ihre Köpfe zum Fressen unter die Wasseroberfläche stecken. Sogar Taucher sind zu hören, der im Moment der Aufnahme im See unterwegs waren. Anders als in der Zeit vor dem Lockdown sind in der Einflugschneise des Frankfurter Flughafens keine Flugzeuge unterwegs. Stattdessen fangen die Unterwassermikrophone die Rufe von Jugendlichen auf, die am See feiern und baden.
Dank seines offenen Bewuchses und seiner Streuobstwiesen ist der Gailenberg ein Refugium für Vögel. Auf den zu Basalt geronnen Überresten von Lavaströmen gelegen, wird der Berg nur von einer dünnen Humusschicht bedeckt. Die kargen Böden dienten lange Zeit dem Weinanbau. Auch wenn der Wein mittlerweile den Apfelbäumen weichen musste, blieben die Böden nährstoffarm.
Riek durchschreitet die offene Landschaft des Gailenbergs auf seinem Stück SECOND NATURE. Dabei dokumentiert er die Vogelstimmen, aber auch die Heuschrecken, Ameisen und Schafe, die das Areal bewohnen. Neben Staren oder? Pirolen hören wir Spechte und zahlreiche andere Singvögel. Rieks Komposition dokumentiert ohne zu verklären. Für Sekunden kommt der Gedanke auf, hier das Leben in einer naturbelassenen Landschaft zu hören. Rieks eigene Schritte auf den knirschende Wegen, das Blöken der Schafe, Stimmen und immer wieder kurze Geräusche weit entfernter Maschinen führen uns aber beständig vor Augen, dass die Landschaft durch den Menschen eingerichtet und aufrechterhalten wird. Daran ändert auch der Fluglärm nichts, den die Pandemie zum Verschwinden gebracht hat. Den Städtern, deren Sozialleben unter den Pandemiebeschränkungen zusammengebrochen ist, bringt der Gailenberg zu Gehör, dass sie ihre Welt nicht nur mit Menschen teilen, sondern mit Millionen anderer Lebewesen, die gleich hinter ihren Häusern wohnen.
Den Gesundheitsbehörden haben Frost und Schneefall im Februar 2021 häufig Kopfzerbrechen bereitet, weil viele Familien mit Ski und Schlitten den Winter genießen wollten, um ihrer häuslichen Einsamkeit zu entkommen. Aus Angst vor engen sozialen Kontakten am Rodelhang wurden zahlreiche Zugangsstraßen in die Mittelgebirge gesperrt. Die Winterfreude, die uns Riek in seiner Arbeit ICE ICE BABY zeigt, hatte mit diesem Problem nicht zu kämpfen. Die Komposition lässt uns die winzig kleinen und ohne Mikrophone kaum hörbaren Geräusche entdecken, die durch die Bewegungen von Eis erzeugt werden. Der ungewöhnlich starke Frost hatte die Seen in den Dietesheimer Steinbrüchen hart gefroren. Was wir hören sind deswegen keine Eisschollen, sondern die Ergebnisse der feinen Druckveränderungen und Temperaturschwankungen, die zeigen, dass auch fest gefrorenes Eis alles andere als starr ist.
Kontaktmikrophone, die auf das Eis gepresst werden, machen das Kacken und Zischen, das Entstehen feiner Risse und das Drücken des Wassers von unten gegen die Eisdecke hörbar. Wie Laserblitze explodieren die Spannungsentladungen durch die Struktur der auskristallisierten Wassermoleküle. Aber auch hier vermeidet es Riek wieder, uns eine scheinbar unberührte Welt vorzuführen. Stattdessen hören wir, wie Steine auf das Eis geworfen werden. Schließlich wird sogar die Eisdecke aufgehackt und lautes Platschen unter Wasser zeigt, dass Menschen zum Baden in das eisige Wasser steigen.
Nachdem Riek bedingt durch die Pandemieruhe im Mai 2020 wiederholt einen Waschbären aus dem Schornstein seines Studios steigen sah, machte er sich in den folgenden Tagen auf die Suche nach dessen genauem Wohnort. Für einen Klangkünstler lag es nahe, den Schornstein mit einem Mikrofon zu versehen. Nachdem das über ein kleines Loch in einer Luke gelungen war, war er überrascht, anstatt eines einzelnen Tieres die Geräusche einer ganzen Waschbärenfamilie zu hören. Völlig überrascht fand sich Riek mitten in der Akustik einer Kinderstube frisch geborener Waschbären wieder, die gesäugt wurden, miteinander spielten und ungeduldig auf die Rückkehr der Mutter warteten, wenn diese in der Abenddämmerung auf die Suche nach Futter gegangen war.
Viele Stunden Tonaufnahmen entstanden und Riek konnte miterleben, wie die Mutter ihre Jungen das erste Mal aus dem Schutz des Schornsteins hinaus auf das Dach und in die Äste der neben dem Studio stehenden Haselnuss trug. Die Komposition RACOON CLUB dokumentiert auch diesen Ausflug. Die Kleinen rufen und schreien verängstigt, während wir hören, wie sie von den Ästen, auf die sie ihre Mutter geschoben hat, uns Gras und auf eine kleine Hütte fallen, die Rieks Kinder im Garten errichtet hatten. Der Hund der Nachbarn bellt und eines der Waschbärenkinder stößt versehentlich an eine Glocke, die sich im Garten befindet. Am Abend nach diesem anstrengenden und auch für die Mutter sicherlich schwierigen Ausflug brachte die Waschbärin ihre Kleinen einzeln aus dem Kamin und verschwand an einen anderen Ort, ohne noch einmal auf das Studiodach des Künstlers zurückzukehren.
Die Hanauer Hellentalbrücke führt die B43 zwischen den Stadtteilen Klein-Auheim und Groß-Auheim über den Main. Obwohl der Flugverkehr durch die Pandemiebeschränkungen weitgehend zum Erliegen gekommen war, galt das nicht für den Autoverkehr. Riek berichtet, dass die Bundestraße zur Zeit seiner Aufnahme im Juni 2020 teilweise sogar stärker befahren war als sonst. Was wir durch die Kontaktmikrophone des Klangkünstlers hören, ist allerdings nicht das Summen der Reifen und das Dröhnen von Motoren. Anstatt eines wilden Rauschens haben die Mikrophone Schwingungen von Stahlträgern und Türen aufgefangen, die von den Vibrationen erzeugt werden, in die der Verkehr die Brücke versetzt.
Was in der Musik mit dem englischen Begriff Drone bezeichnet wird, überführt Riek in seiner Komposition TRAVEL DRONE in ein geradezu mystisches Hörereignis. Schwebende Obertöne ergänzt er um die tiefen, niederfrequenteren Erschütterungen. Das zunächst sanfte Rauschen steigert sich zu einem flirrenden Klangteppich, der die Wucht der riesigen Brückenkonstruktion und den Schmutz des rollenden Verkehrs in eine unwirkliche Traumwelt verwandelt. Der Geräuschverschmutzung durch allgegenwärtige Verbrennungsmotoren entlockt Riek faszinierend-schwebende Harmonien und erzeugt damit eine ähnliche Wirklichkeitsveränderung wie sie unser geschäftiger Alltag durch den Pandemie-Lockdown auf eine irritierende und nicht selten auch beglückende Weise erfahren hat.